Ich bin ein Anderer…

becker_anderer.jpg…ist der Titel des Buches von Markus Becker, das 2006 im gardez!-Verlag erschienen ist. Das Buch ist zugleich als Dissertation am Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereicht worden.
Als ich den Titel las, dachte ich zuerst an den berühmten Ausspruch von Rimbaud, auf den sich wiederum der nicht weniger berüchtigte Psychosemiologe Jacques Lacan in seiner Reformulierung der Freudschen Psychoanalyse programmatisch bezog. Mit dementsprechend großen Erwartungen an den Text begann ich die Lektüre – um recht schnell mit Ernüchterung festzustellen, das meine ersten, assoziativen Erwartungen enttäuscht werden würden.

Der Autor nimmt sich vor die Inszenierungen von Identität/swechsel im Film an einigen ausgewählten Spielfilmen nachzuvollziehen. Identität versteht der Autor dabei im Sinne traditioneller Konzepte „als Summe aller Wesensmerkmale eines Individuums“ (13). Diese Merkmale ermöglichen zugleich Identitfizierung und Unterscheidung eines Individuums von anderen Individuen. Die Einzigartigkeit einer Person, eines Individuums korreliert also mit der Frage des „Dazugehörens oder Abgrenzens zu einem anderen Individuum oder einer Gruppe“ (13) Personale Identität, so schreibt Becker weiter, muss gleichermassen als biographischer Prozeß gedacht werden; im Sinne von Mead, Erikson oder Habermas, als Folge der Kontinuität der Biographie einer Person.

An einem Korpus von elf Filmen geht der Autor der Frage nach wie die personale Identität und/oder das Phänomen eines Identitätswechsels in jüngster Vergangenheit filmisch bearbeitet, inszeniert wurden. Den Filmkorpus segmentiert Becker in vier Themenschwerpunkte: 1. Ich will ein anderer werden: The talented Mr Ripley, Dark Passage und Gattaca / 2. Im Körper des anderen Geschlechts: Tootsie, Boys don`t cry / 3. Hinter der Maske des Superhelden: Batman, Batman Returns und Spieder-Man / 4. Ich weiß nicht, wer ich bin: Dark City, Totall Recall und Angel Heart.

Becker findet im Laufe seiner Filmanalysen zahlreiche und unterschiedlichste Gründe für einen Identitätswechsel der Filmfiguren, für den Wunsch einer Figur „sein ,Ur-Ich‚Äò zu verlassen“ (14) um ein anderer, ein anderes Ich zu werden. Aber allen Identitätswechseln gemein sei die Tatsache, dass sie aus einer Notlage heraus geboren sind. Letztlich würden alle Protagonisten mit Situationen konfrontiert, die ihr „ursprüngliches“ Ich offenkundig nicht mehr zu meistern versteht. Neben den Problemen, die Begriffe wie „Ur-Ich“ und „ursprüngliches Ich“ mit sich führen, sehe ich hier noch das weitere Problem, dass sich in die Analysen der filmischen Inszenierungsformen von Identitätswechseln psychologisierende Betrachtungen und Zuschreibungen seitens des Autors einschleichen.

Die Identifikation psychologischer Phänomene und Theoriefiguren im Film vereinfacht allerdings nur scheinbar das Problem der Identität. Denn Identität, auch als psychologischer Begriff, war und ist problematisch. Bleiben wir nur beispielsweise bei der Aussage „Ich bin ein Anderer“ – der Titel vorliegender Monographie wirft unter den Bedingungen der Logik ein Paradoxie auf, sie sich auch so formulieren lässt: Ich bin Nicht-Ich. Diese Formel ist nicht weniger problematisch als die tautologische Identitätsformel Ich=Ich unsinnig und unbrauchbar ist. Behauptet man also, dass Ich gleich Nicht-Ich ist, dann landet man in der Paradoxie, das Ich etwas anderes ist als es selbst, dass das was ich ist nicht alles Ich sein kann, sondern sich auf etwas hin öffnet, dass dieses Ich unterbietet oder auch übersteigt. Ist das Ich Nicht-Ich, so ist die Frage der Beziehung dieser beiden Dimensionen der personalen Identität zu klären.

Die Klärung dieser Frage nehmen sich dann auch die Identitätsdiskurse der Philosophie und Sozial- und Kulturwissenschaften vor, die im Laufe der jüngeren Vergangenheit – im Zuge der Rezeption poststrukturalistischer Theorie – einer grundlegenden Revision unterzogen wurden. Identität bezeichnet und bezeichnete die Selbstpositionierungsprozesse der Subjekte, bezogen auf den soziokulturellen Rahmen ihrer Lebenswelt. Die Krise der Moderne führte auch zu einer Dekonstruktion grundlegender Koordinaten modernen Selbstverständnisses. Die an Vorstellungen von Einheit, Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungslogik oder Fortschritt orientierten Konstrukte sind zertrümmert worden. Begriffe wie Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch, Zerstreuung, Reflexivität oder Übergänge sollen zentrale Merkmale der Welterfahrung thematisieren.
In mittlerweile unzähligen Publikationen zu der Frage der Identität ist, vornehmlich entlang klassischer Identitätskonzeptionen, wie die von Mead, Erikson, Goffman oder Habermas – ein sehr differenziertes Verständnis von Identität herausgearbeitet worden.

Umso irritierender ist die Tatsache, dass dieser komplexe Diskurs in der vorliegenden Dissertation nicht aufgenommen wurde. Dem Leser stellt sich von Beginn an die Frage, von welcher Identität der Autor nun spricht: von einer Charakteridentität, die eher an die materielle Präsens, die Räumlichkeit gebunden ist oder von einer formalen, zeitlichen Identität oder Mischformen beider Konzepte. Bei der literarischen und filmischen Figur Dr. Jekyll/Mr. Hyde (auf die sich der Autor u.a. in der Einleitung bezieht) stellt sich doch das Problem dar, dass es scheinbar einen Körper gibt, der zwei unterschiedliche Charaktere beherbergt, die zudem noch unterschiedliche Erinnerungen bzw. Verdrängungsmechanismen zu besitzen scheinen. Über welche Form der Identität soll am Falle Dr.Jekyll/Mr. Hyde gesprochen werden? Welche der „Identitäten“ ist entscheidend für die Bestimmung des Selbst-, wie auch des Anders-seins der Person: die materielle, die formal-zeitliche oder die Erinnerungsidentität?

Neben der Tatsache, dass es eben vielfältige Kriterien der „Identität“, möglicherweise gar „Identitäten“ gibt, erschwert sich meiner Meinung nach die Betrachtung der Idenitätsproblematik am Film, da noch eine weitere Unterscheidungsebene einzuziehen ist. Es gilt zu entscheiden, ob man Identitätprozesse der Filmfiguren oder Identitätsprozesse des Zuschauers beim Filmsehen untersuchen will. Eine Unterscheidung die zwar leicht zu treffen, aber umso schwieriger durchzuhalten ist. Folgt man den Ausführung Adornos zum identifizierenden Denken, ist eine reine Objektanalyse unmöglich und ist immer schon durchzogen von Identitäts- und damit Reduktionsmechanismen des Analysierenden. Kurz: die filmischen Differenzen werden in der Betrachtung, im wissenschaftlich-begrifflichen Zugriff reduziert und subsumiert – zumindest besteht immer die Gefahr das zu tun. „Der Film ist ein anderer“ wäre dann die Formel dafür, dass sich die Eigenheit, die Singularität des Films dem identifizierenden Zugriff des Filmwissenschaftlers entzieht und somit immer etwas radikal anderes bleibt.

Ich möchte zum Ende dieses Beitrags auf eine andere Publikation hinweisen, die Beckers Filmanalysen wie ich finde gut ergänzen könnte, da sie oben skizzierten, komplexen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs aufnimmt und sogar um eine anthropologische und phänomenologische Dimension erweitert: Benjamin Jörissen; Jörg Zirfas: Phänomenologien der Identität. Human-, sozial und kulturwissenschaftliche Analysen, VSVerlag 2007. Die Autoren verstehen Identität weniger als festumrissenes begriffliches Konzept, sondern als ein „problematisierendes Diskursfeld“, ein „phänomenologisches Prisma“, das unterschiedliche Fragen aufwirft und damit auch unterschiedliche Antworten hervorbringt.