|| Vorträge ||
Prof. Dr. Insa Härtel: Choreografien des Testens und Übens. Sexualität in Test (2013)
Test (USA 2013; R: Chris Mason Johnson) versetzt das Publikum ins San Francisco von 1985, d.h. in eine Zeit, in dem der erste HIV-Test verfügbar wird. Der Film dreht sich mit und um einen homosexuellen weißen jungen Tänzer eines Ensembles, der wie andere Angst vor dem Virus hat. Damit werden nicht nur derzeit aktuelle Ängste vor infizierenden Körpern oder Funktionsweisen homophober Tendenzen – auch im Film selbst – bewegt. Sondern es zeigen sich ebenso nostalgische Züge (vgl. Pocius 2017), die beim Blick von heute auf die (Retro-)Ästhetik der 1980er Jahre auf das Publikum übergreifen. Darüber hinaus evozieren die Filmbilder und -töne schon in sich ein verlorenes „Vorher“: eine Sexualität (vgl. ebd.), wie sie demnach einmal sein konnte, aber aus gesundheitspräventiven Gründen nicht mehr ist. Verbunden mit den Tanzszenen des Films, welche im Spiel mit der Kamera zuweilen selbst zur Story werden (vgl. Morris 2014) führt Test dabei im „Nachher“ der filmischen Jetztzeit vor Augen – auch über den schwulen Kontext hinaus –, dass Sexualakte (etwa mit Kondom) ebenso geübt oder „getestet“ werden müssen, bis es zur „Aufführung“ kommt. Und manchmal scheidet man aus. Wie also erprobt dieser zeitverflochtene Film sexuelle Choreografien, was spielt er durch und übt es beim Betrachten ein?
Insa Härtel ist Professorin für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Psychoanalyse an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin (IPU). Schwerpunkte: Psychoanalytische Kunst- und Kulturtheorie, Sexualitäts- und Geschlechterforschung. Jüngste Herausgabe: Reibung und Reizung. Psychoanalyse, Kultur und deren Wissenschaft, Hamburg: textem Verlag 2021. https://www.ipu-berlin.de/professoren/haertel-insa/
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Dr. Sulgi Lie: Mouths Wide Open
Der Vortrag untersucht die spezifische Oralität der Komik in einigen Filmen der Marx Brothers. Parallel zu der Erfindung des Tonfilms explodiert in musikalischen Komödien der Marx Brothers eine orale Lust am Sprechen, Singen und sonstigen Sound-Kreationen, die das Sexuelle als Lautmalerei audiovisuell in Szene setzen. Anhand von Analysen ausgewählter Sequenzen aus „Monkey Business“ (1931) und „Duck Soup“ (1933) geht es dabei vor allem um das Verhältnis zwischen der „Stummheit“ von Harpo Marx und den Wortkaskaden von Groucho und Chico Marx.
Sulgi Lie ist Gastprofessor für Film- und Medienwissenschaften an der School of Advanced Studies der Universität Tyumen in Russland. Er ist Autor von „Towards a Political Aesthetics of Cinema: The Outside of Film“ (Amsterdam University Press 2020). Sein Buch „Gehend kommen. Adornos Slapstick: Charlie Chaplin & The Marx Brothers“ wird im Sommer 2021 im Berliner Vorwerk 8-Verlag erscheinen.
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Dr. Linda Waack: Hingerissen. Analytik und Ästhetik des erotischen Kinos von Lina Wertmüller
Am Beispiel von Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Meer im August (I 1974) [O: Travolti da un insolito destino nell’azzurro mare d’agosto] möchte ich das „implizite analytische Potenzial“ von Lina Wertmüllers Filmen erkunden. Stichworte sind dabei Macht und Ohnmacht, Zoom und Reißschwenk, Sprache und Schweigen, Trieb und Beherrschung, sowie die Frage nach einer psychoanalytisch informierten feministischen Phantasie der 1970er Jahre (Masochismus/Sodomie).
Die These dabei ist, dass die Spielfilme der italienischen Regisseurin selbst damit befasst sind das Sexuelle zu analysieren: Sie finden dafür Bilder, Farben, Landschaften, Techniken, Sounds und nicht zuletzt Worte. Dabei wenden sie sich offensiv gegen Verdeckung und Abwehr. Die Filme in der Rolle einer „Analytikerin des Sexuellen“ zu imaginieren ist daher keineswegs abwegig. Denn der Anspruch, den man der analytischen Sitzung nachsagt – nämlich dass darin alles zur Sprache kommen darf – wird hier filmisch ausgelotet: „Wenn in der Liebe und im Krieg alles erlaubt ist, ist auch im Kino alles erlaubt“, heißt es bei Wertmüller. Die Sichtungen ihrer Filme sind entsprechend anstrengende Sitzungen. Vielleicht ist das ein Grund warum Lina Wertmüllers „Projekt der Verknüpfung von Eros und Groteske“ (Barg 1997) in der Forschung schmerzlich unterrepräsentiert ist. Obwohl ihre Filme für die Entwicklung des erotischen Kinos bedeutsamen waren, finden sie etwa in Seeßlens Erotik. Ästhetik des erotischen Kinoskeine Beachtung. (Vgl. Barg 1997) Obwohl hier vom „Sex im Jet Set“ über „Eros all‘ italiana“ (Seeßlen 1997) viele mögliche Subgenres des Sexuellen im Kino durchgegangen wurden, fehlt doch bisher der genauere Blick auf Wertmüllers „verfilmt[e] Ausrufezeichen“ (Witte 1985)!
Linda Waack ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissenschaft der Freien Universität Berlin. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik in Tübingen war sie Junior Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) in Weimar. Zuletzt erschienen von ihr: „Der kleine Film. Mikrohistorie und Mediengeschichte, Paderborn: Fink 2020“, „Zwei oder drei Dinge, die sie von sich weiß. Paul Verhoevens ELLE und die Repräsentation sexualisierter Gewalt“, in: Montage AV: Serienästhetik, Jg. 27, Nr. 2, 2018 und „Walfreiheit. What it took Cinema to Free Willy”, in: nachdemfilm, Nr. 18, 2020. https://nachdemfilm.de/issues/text/walfreiheit
|| Workshops ||
Jun-Prof.in Dr. Julia Bee: Die Collage und die Couch des Armen. Von partizipativer zu aktivistischer Analyse
In „Die Couch des Armen“ entwirft der Aktivist und Psychiater Félix Guattari eine transversale Filmanalyse. Der Film selbst wird zum Alltags-Therapeuten, für die, die arm genannt werden, also keine Therapie bezahlen können oder wollen. Der Film besteht für Guattari aus Subjektivitäten, die gesellschaftliche Heilungsprozesse auslösen können. Um Heilung geht es heute auch häufig in postkolonialer Perspektive, wenn Restitution, Rassismus, Anerkennung von traumatischer Vergangenheit und damit Gegenwart und Landraub verhandelt werden. Indigener Film kann etwa Heilung für kulturelle Traumata sein, wie Adam Szymanski ausführt. Für den Begriff der Therapie oder Heilung möchte ich an diese postkolonialen Einsätze anknüpfen und fragen, inwiefern Guattaris Begriff des Films als Produzent von Subjektivitäten methodisch empirisch weitergedacht werden kann. Wie könnten Workshops aussehen, die sich mit Rezeption kollektiv auseinandersetzen und so Kollektivität medial produzieren? Wie könnte wiederum eine activist research ansetzen, die keine Ergebnisse abschöpft, z. B. wie eine beforschte Person einen Film versteht oder rezipiert, sondern interventionistisch verfährt. Statt extraktivistischerForschung, die in Rezeptionstudien verbreitet ist, möchte ich mir noch einmal mein Dissertationsprojekt ansehen und selbstkritisch weiterentwickeln, wie daraus eine aktivistische Forschung entstehen können. Ich möchte zur Idee der Collage als Methode der Zuschauer*innenforschung zurückkehren und diese an die partiellen Affekte und Perzepte anschlussfähg machen, die Guattari so zentral für eine nicht auf Sprache beschränkte Schizoanalyse fand. Der Fokus auf Affekte stellt das Heterogene und Widersprüchliche in den Vordergrund und knüpft an innere und äußere, persönliche undpolitische Konflikte an. Denn in der Schizoanalyse geht es nicht um Reproduktion, sondern um die Produktion von Subjektivitäten – und damit um Intervention.
Julia Bee ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin. Seit September 2016 ist sie Juniorprofessorin für Bildtheorie an der Bauhaus Universität Weimar. Von April bis September 2020 war sie Gastprofessorin für Filmwissenschaft an der Freie Universität Berlin und ist seit September 2020 bis April 2021 Mercatorfellow am Sonderforschungsbereich ‚Medien der Kooperation‘ der Universtität Siegen.
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Dr. Johannes Binotto: Andere Zonen. Erogeneität des Filmischen und der Videoessay als Verkörperung
Ausgehend Freuds Begriff der Erogeneität einerseits und von Laura Marks’ und Vivian Sobchacks Theorie des Filmerlebnisses als einer körperlichen Erfahrung andererseits, lässt sich zeigen, dass Filme ein besonders akute Wahrnehmung dafür schaffen, inwiefern sexuelle Erregung nicht fix an bestimmte Quellen gebunden ist, sondern sich verschieben lässt. Der Film führt damit exemplarisch die Vielfalt erogener Zonen vor, bzw. er führt vor, wie alles potentiell zur erogenen Zone werden kann. Müsste man nicht diese Erogeneität des Films zum Ausgangspunkt seiner Analyse machen? Das filmanalytische Instrument des Videoessays stellt für mich eine Form dar, wie sich diese Erogeneität des Films nicht nur untersuchen, sondern ausagieren und erweitern lässt. Im Unterschied zur verbreiteten Form von Videoessays, die im Sinne eines didaktischen Erklärvideos gleichsam „von aussen“ die Gestaltungsmittel eines Filmes erläutern, ist meine Herangehensweise in Videoessays eine performative und körperliche: Es geht mir in meinen Videoessays vermehrt darum, mich bei der Analyse eines Films selber körperlich in diesen Film einzuschreiben und mit ihm zu interagieren (ohne Rücksicht auf allfällige analytische Abstinenzregeln). Als Beispiel könnte etwa mein Videoessay „Crossing“ (2020) dienen, der sich mit einer Szene aus dem Queercinema-Klassiker „Freak Orlando“ (1981) beschäftigt und wo es nicht nur darum geht, die transgressive Sexualität in Ottingers Film zu thematisieren, sondern auch darum, dass ich selbst die Position des Analytikers verlasse und mich in den Film und seine erogenen Zonen hineinbegebe.
Johannes Binotto ist Kultur- und Medienwissenschaftler, Mitarbeiter des Filmmagazins Filmbulletin, sowie in der erweiterten Redaktion von RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Daneben schreibt er als freier Publizist. Er ist Dozent für Filmtheorie und Filmgeschichte an der Hochschule Luzern Design+Kunst und ausserdem Mitarbeiter am Englischen Seminar der Universität Zürich, wo er mit einer Studie zum unheimlichen Raum in Kunst, Literatur und Film promoviert hat. Sein beiden aktuellen Forschungsprojekte sind einerseits eine Untersuchung zum Zusammenhang zwischen filmtechnischen Verfahren und dem psychoanalytischen Begriff des Unbewussten (www.entstellungen.org) und andererseits ein Projekt zur Verwendung von Videoessays in universitärer Lehre und Forschung. schnittstellen.me
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Prof.em. Dr. Karl-Josef Pazzini & Prof. Dr. Manuel Zahn: Entzückende Übertragungsreize
Laurent Cantens Film Entre les murs (dt. Die Klasse, F 2008) gehört zum Genre der Schulfilme oder auch Lehrerfilme. Explizit sexuell ist der Film nicht. Er ist aber um so sexueller, indem er Geschichten von und in der Schule erzählt, in der viele von uns die ersten sexuellen Erfahrungen auf definierten Plätzen, die zu verlassen während der Schulstunde verboten war, machen konnten.
Uns interessieren insbesondere zwei Aspekte, neben den stärker inhaltlichen Fragen nach der Verbindung von pädagogischer Beziehung, Eros und Übertragung, die der Film verhandelt:
(1) Wo schafft der Film die Übertragungsanreize, wie kommen sie zustande, bei den Betrachter*innen des Films – und dann bei den Wissenschaftler*innen? Auf der Oberfläche des Films, auf der Ebene der gefilmten Figuren und/oder auf Ebene der phantastischen Ergänzungen beim Sehen? Mit welchen ästhetischen Mitteln erregt der Film seine Betrachter*innen? Ist das Entzücken beim Betrachten des Films ein Moment oder gar Äquivalent der Verliebtheit? Werden die Augen von der Mimik und Gestik, von den Bildern sowie deren Montage in ihrem Rhythmus auf der Leinwand gestreichelt, das Trommelfell durch die Töne? Kann man an diesem Film Übertragung und Projektion (im psychoanalytischen Sinne) unterscheiden?
(2) Theoretisch interessant ist auch die Frage, was der Effekt des Films als ,Analytiker‘ ist. Wie kann der Film als Analytiker wirksam werden? Als stummer/redender Zeuge, deutet er etwas, ist er Katalysator, Gefäß für Unterstellungen, Ablage von etwas, das nicht ging, lösbar war, für die Produzenten des Films u.a.m.? Ist er, wie der Analytiker, ein Symptom (gesellschaftlicher Verhältnisse)? Öffnet er etwas, für welche Situationen, welche Nachträglichkeit produziert er? Wir möchten versuchen zu fassen zu bekommen, was für uns beim Sehen, Reden und Schreiben die Herausforderung war, die man einem Psychoanalytiker zuschreiben könnte.
Karl-Josef Pazzini (Prof.em. Dr.) ist Psychoanalytiker, Supervisor, Berater; bis 2014 Professor für Bildungstheorie und Bildende Kunst an der Universität Hamburg; Herausgeber des RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, Vorstand der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin; Mitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft Berlin. Arbeitet zu Übertragung, Pornographie, Laienanalyse, Film als Analytiker, Museum als Utopie der bürgerlichen Gesellschaft. pazzini-psychoanalyse.de
Manuel Zahn ist Professor für Ästhetische Bildung am Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln. Seine Arbeitsgebiete sind Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Medienbildung (insb. Filmbildung), Kunstpädagogik und Ästhetische Bildung in der digitalen Medienkultur. Zuletzt erschienen von ihm: Lehre im Kino. Psychoanalytische und pädagogische Lektüren von Lehrerfilmen (2018), Visuelle Assoziationen. Bildkonstellationen und Denkbewegungen in Kunst, Philosophie und Wissenschaft (2018) und Education in the Age of the Screen. Possibilities and Transformations in Technology (2019). kunst.uni-koeln.de/zahn/