Die Theorie vom ausgedehnten Geist setzt demgegenüber einen anderen Schwerpunkt. „Wo endet der Geist und wo beginnt der Rest der Welt?“, beginnen Andy Clark und David Chalmers ihren 1998 erschienen Grundlagenartikel Der ausgedehnte Geist (The Embodied Mind) (vgl. Clark/Chalmers 2017[1998]: 205). Darin machen sie sich für das Argument einer räumlich weiteren Erstreckung (Ausdehnung) der Träger kognitiver Zustände und Prozesse stark. Anders als die Einbettungsthese untersucht die Theorie der Ausdehnung also genau jene (räumlichen) Grenzen, innerhalb derer Kognition ablaufen kann – und nimmt unser Sandwich mächtig auseinander! Denn während die Verfechter*innen eines extended mind dem klassischen Funktionalismus und Repräsentationalismus von Kognition weitestgehend treu bleiben (d.h. das Primat des Wissens-dass und die Erklärung von Kognition über funktionale Prozesse bleiben erhalten), nehmen sie eine radikale Korrektur an jenem Modell vor, das die funktional beteiligten Komponenten miteinander in Beziehung setzt: Kognition kann sich auch außerhalb des Schädels, des ,Zentrums‘ oder des ,Belags‘ abspielen. Mentale Prozesse sind nicht auf das Gehirn beschränkt, also von einer ,magischen Grenze‘ umgeben, sondern können in den nicht-neuronalen Körper und sogar in dessen Umwelt hineinreichen. [1]
Das bedeutet einerseits: Sinnesorgane (Wahrnehmung) und Motorik (Handlung) werden zu potenziellen Trägern für kognitive Prozesse und Wahrnehmung erhält – um zu Dieter Mersch zurückzukehren – eine potenziell epistemische Qualität. Aus der anderen Perspektive untermalt das Bild des extended mind, dass das, was wir wahrnehmen, nicht etwa objektiv in der Welt liegen kann, sondern von unseren „geistigen Organen“, durch die wir wahrnehmen, beeinflusst wird: „Was wir hören und sehen hängt – einfach gesprochen – wesentlich auch davon ab, was wir wissen“ (Breyer 2017: 41). Es liegt damit eine reziproke Bedingtheit der ,inneren‘ Geistesentwürfe (Projektionen) und ,äußeren‘ Rezeptionen (Repräsentationen) vor. Der Geist ist ausgedehnt, womit der cartesianische Substanzdualismus überwunden wäre.
Wichtig ist, dass der Körper für die Theorie der Ausgedehntheit (insbesondere in Abgrenzung zum verkörperten und enaktiven Geist) von eher untergeordneter Bedeutung ist; es geht zentral darum, dass Entitäten außerhalb des Gehirns kognitive Funktionen übernehmen können. Nicht notwendigerweise sind diese kognitiven Träger an bestimmte, z.B. menschliche oder lebendige, körperliche Eigenschaften gebunden. Ebenso gut können nicht-menschliche, ja sogar artifizielle ,Objekte‘ konstitutiv an diesen Prozessen beteiligt sein und zu einem Teil des kognitiven Systems werden:
In diesen Fällen ist der menschliche Organismus mit einer externen Entität in einer wechselseitigen Interaktion verbunden, sodass ein gekoppeltes System entsteht, das selbst als kognitives System betrachtet werden kann. Alle Komponenten im System spielen eine aktive kausale Rolle und bestimmen gemeinsam das Verhalten auf dieselbe Art und Weise, wie das Denken es üblicherweise tut (Clark/Chalmers 2017[1998]: 208).
Das einfachste Beispiel, um sich die kognitive Beteiligung externer Hilfsmittel vorzustellen, ist sicherlich das schriftliche Lösen komplizierter Rechenaufgaben mit Stift und Papier (vgl. Fingerhut et al. 2017: 66). Oder, um dem Ansatz von Clark und Chalmers weiter zu folgen und noch deutlicher zu werden: Für einen Alzheimerpatienten kann eine in einem Buch festgehaltene Notiz dieselbe Funktion übernehmen, die bei einem Gesunden das Gedächtnis erfüllt (vgl. ebd.: 213 f.). Würde die externe Komponente – in diesem Fall das Notizbuch des Patienten – wegfallen, wäre kein Erinnerungsvermögen und damit verbundenes Handeln möglich. [2] Die Notiz kann also nicht nur als unterstützend, sondern als konstitutiv für den kognitiven Zustand angesehen werden. John Sutton geht noch weiter und spricht – womit sich Ähnlichkeiten zum Neuen Materialismus auftun – Dingen, Artefakten und Technologien gar ein kognitives Eigenleben zu (vgl. Sutton 2010). Im funktionalistischen Verständnis Suttons stellen ein Smartphone und ein Gehirn gleichberechtigte Informationsspeicher dar, die ein gekoppeltes kognitives System bilden: „We are Cyborgs by Nature – and the human mind has never been ,bound and restricted by the biological skin-bag‘“ (ebd.: 192 mit Bezug auf Clark 2003). Anders als Clark und Chalmers, die für eine ausgedehnte Kognition die funktionale Gleichheit interner und externer Speicher forderten, plädiert Sutton für die Möglichkeit einer Komplementarität beider Komponenten. So halten öffentlich zugängliche und distribuierbare Symbolsysteme, z.B. in Form medialer Technologien, andere kognitive Eigenschaften bereit als neuronale Informationen und umgekehrt (vgl. Fingerhut et al. 2017: 72). [3]
Die für die philosophische Tradition recht radikal daherkommende Einstellung eines ausgedehnten Geistes oder eines ,aktiven Externalismus‘ ist jedoch nicht mit der Idee eines Panpsychismus [4] zu verwechseln: Für die Vertreter*innen der Ausdehnungsthese bleiben der (menschliche) Körper und zentral das Gehirn notwendige Bedingungen von Kognition, wenn sie auch nicht hinreichend sein müssen (vgl. ebd.: 71). Ein ausgedehnter Geist ist demnach zwar nicht mehr „organism-restricted“, aber weiterhin „organism-centered“ (ebd.: 71). [5] Zugleich halten diese Ansätze, wie bereits betont, am klassischen Funktionalismus des Geistes fest, „[d]er Unterschied liegt nur darin, dass dieses funktionale Profil nicht allein zum neuronalen System mit seinen Inputs und Outputs gehört, sondern zum gesamten verkörperten System, das in der Welt verortet ist“ (Clark 2017: 447). ,Verkörperung‘ bedeutet für Clark keineswegs die Reduktion auf ,den einen‘ (menschlichen) Körper, also einen Körperzentrismus im naturalistischen Sinne. Er schreibt hingegen:
Man beachte auch, dass hier nicht aufgeführt wird, was einen einzelnen, beständigen Körper im normalen, dreidimensionalen Raum erfordert. Stattdessen könnte es echte, aber versprengte Formen der Verkörperung geben, Verkörperung in virtuellen oder gemischten Realitäten und multiple Verkörperungen für eine einzelne Intelligenz (ebd.: 462). [6]
So kristallisieren sich an dieser Stelle, trotz ihres gemeinsamen Fundaments, schon einige Unterschiede bzw. Spannungen zwischen den Verkörperungsansätzen heraus: Anders als in weiten Teilen beim eingebetteten und vor allem beim enaktiven Geist, wie wir gleich noch sehen werden, bleibt der Funktionalismus (und teils sogar der Computationalismus) beim ausgedehnten Geist erhalten – wenngleich nicht mehr von einem vertikal belegten Sandwich, sondern von einem in den Körper und die Welt ausgedehnten gekoppelten System die Rede ist. Auf der anderen Seite identifiziert Clark zwei verschiedene Denkrichtungen, die einerseits den Körper als „etwas immanent Besonderes“ auslegen, eine „Art ,New-Wave-Körperzentrismus‘“ begründen und andererseits den Körper als ein Element unter vielen in einem „gleichberechtigten Tanz von Gehirn, Körper und Welt“ begreifen, dessen Gleichgewicht – und nicht etwa die körperliche Verfasstheit per se – die Eigenart des Geistes hervorbringt (ebd.: 463).
Anmerkungen
[1] In diesem Zusammenhang wird auch von ,Vehikel-Externalismus‘ oder ,Aktivem Externalismus‘ gesprochen, vgl. Fingerhut et al. 2017: 67.
[2] Die (potentielle) funktionale Gleichheit interner und externer Elemente (oder Dispositionen) im kausalen kognitiven Prozess wird auch als Paritätsprinzip bezeichnet (vgl. Clark 2010: 86; Wheeler 2012: 50).
[3] Die an den Komplementaritätsbegriff gebundene ,zweite Welle‘ der Extended-Mind-These, der sich auch Clark später anschließt (vgl. Clark 2003), beruft sich u.a. auf Merlin Donalds Theorie der „Exogramme“ (Fingerhut et al. 2017: 72) und bietet interessante medientheoretische und kunstpädagogische Anschlüsse.
[4] Diese besagt, dass geistige Zustände überall in der Welt verteilt sind.
[5] Die einzige Einschränkung, die die Vertreter*innen des extended mind für ihre Ausgedehnheitsthese vornehmen, betrifft übrigens das Bewusstsein: bewusste Zustände scheinen sich tatsächlich, so die Annahme, nur im Kopf abzuspielen (vgl. ebd.: 68).
[6] Für weitere Ausführungen vgl. Clark 2003.