Enactive Mind

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Eingeführt durch Varela, Thompson und Rosch beschreibt der Enaktivismus einen Verkörperungsansatz, der sich vorwiegend auf evolutionsbiologische Argumente stützt und die aktiv gestaltendende (enaktive, hervorbringende) Rolle des menschlichen Organismus in den Fokus stellt. Kognition wird hier gleichgesetzt mit „sense-making“ (vgl. Fingerhut et al. 2017: 85), was auf die biologische und auch pragmatistische Sichtweise zurückführt, dass ein Organismus Bedeutung hervorbringt und seine Umwelt einerseits gestaltet und andererseits von ihr gestaltet wird. Diese wechselseitige Konstitution kommt dadurch zustande, dass autopoietische und strukturelle Prozesse zusammenwirken. In direkter Gegenposition zu einer funktionalistischen und repräsentationalistischen Theorie des Geistes, wie sie von der klassischen Kognitionswissenschaft, aber auch von den Verfechter*innen der Extended-Mind-These beibehalten wird, könnte das Credo der Enaktivist*innen lauten: „Ein Organismus repräsentiert nicht, er interagiert“ (ebd.: 83).

Repräsentationen stehen nach Varela et al. im Zentrum zweier extremer kognitivistischer Positionen: Einmal werden sie dafür genutzt, um (gemäß Realismus oder Objektivismus) eine vorgegebene äußere Wirklichkeit aufzufinden, oder um (gemäß Idealismus oder Subjektivismus) eine innere Welt nach außen zu projizieren. „Unsere Absicht ist es, die ganze logische Geographie von Innen versus Außen zu umgehen“, schreiben die Autoren, „und zwar dadurch, dass wir Kognition weder als Auffinden noch als Projektion verstehen, sondern als verkörperte Tätigkeit“ (Varela et al. 2017[1991]: 318). Argumentativ begründen sie ihre Auffassung u.a. durch das kognitive Modell der Kategorisierung von Farben. [1] Mit Bezug auf Kay, Kempton und MacLaury belegen sie, dass Farbkategorien wie „Rot, Grün, Gelb, […] ebenso wie die Unterschiede zwischen hell/warm, dunkel/kalt […]“ weder rein subjektivistisch, noch objektivistisch zu erklären seien, sondern „abhängig von Erfahrung, Übereinkunft und Verkörperung, d.h. sie hängen von unserer biologischen und kulturhistorischen strukturellen Kopplung ab“ (ebd.: 316). Mit ihrer Vorstellung von Kognition als verkörperter Tätigkeit sind für den von Varela et al. vertretenen Enaktivismus, drei Dinge zentral:

Erstens hängt die Kognition von den Erfahrungsarten ab, die ein Körper mit bestimmten sensomotorischen Fähigkeiten ermöglicht, und zweitens sind diese individuellen sensomotorischen Fähigkeiten ihrerseits eingebettet in einen umfassenderen biologischen, psychischen und kulturellen Kontext (ebd.: 318).

Verkörperung meint für die Enaktivist*innen also eine sensomotorische Bedingtheit einerseits und strukturelle Kopplung zwischen Welt und Organismus andererseits. Drittens steht der Begriff der Tätigkeit oder Aktivität bei den Enaktivist*innen im Mittelpunkt: Wahrnehmung und Erfahrung werden nicht als passive (kognitive) Zustände, sondern als (kognitive) Tätigkeiten begriffen. Das bedeutet, „dass sensorische und motorische Vorgänge, Wahrnehmen und Handeln in der lebendigen Kognition fundamental untrennbar sind“ (ebd.). Was ein Lebewesen wahrnimmt, hängt unmittelbar damit zusammen, wie es sich bewegt bzw. handelt und umgekehrt. Wieder haben wir es also mit einer Demontage des Sandwich-Modells zu tun – mit dem Unterschied, dass sein Belag diesmal nicht nur in alle Richtungen verteilt, sondern gar ausgetauscht wird: Kognition benötigt nicht in erster Linie kausale Relationen und Repräsentationen, sondern lebendige, sensomotorische Aktivität, die mit der Fähigkeit zur Interaktion und Adaption für den Organismus einhergeht (vgl. Fingerhut et al. 2017: 86).

Deutlich wird dies am Modell der „sensomotorischen Kontingenzen“ von Kevin O’Regan und Alva Noë. Dieses beschreibt die regulative Beziehung zwischen körperlichen Bewegungen und dem dadurch generierten Input, zum Beispiel beim Sehen. Sehen bildet dem sensomotorischen Ansatz zufolge keine Bilder (Repräsentationen) der Außenwelt, sondern ist eine welterschließende Aktivität, die durch die Kenntnis der sensomotorischen Kontingenzen, also der Regelstruktur zwischen Bewegungsaktivitäten und veränderten Sinnesreizen, vermittelt wird (vgl. O’Regan/Noë 2017: 332). Über dieses Regelwerk und ihre Beherrschung steht uns in der Regel kein explizites Wissen-dass zur Verfügung,

vielmehr ist visuelle Erfahrung ein Modus der Aktivität, die praktisches Wissen über aktuell mögliche Verhaltensweisen und damit verbundene sensorische Konsequenzen beinhaltet. Visuelle Erfahrung beruht auf  Wissen-wie, auf dem Besitz von Fertigkeiten [skills] (ebd.: 344).

Diese Aussage von O’Regan und Noë hebt zwei weitere für den Enaktivismus wesentliche Punkte hervor: Zum einen ordnen sie das propositionale Wissen-dass einem impliziten, fertigkeitsgebundenen Wissen-wie in kognitionsbildenden Prozessen wie dem Sehen unter. Zum anderen stellen sie eine Lösung für die „Erklärungslücke“ in der Qualia-Debatte [2] und der „Suche nach dem neuronalen Korrelat des Bewusstseins“ vor. Die Erklärungslücken behandeln die Unmöglichkeit, „subjektive, gefühlte Aspekte der Erfahrung in behavioralen, physikalistischen oder funktionalen  Begriffen zu erklären“ (ebd.: 363) bzw. kortikale Repräsentationen für Bewusstseinsaktivitäten aufzuspüren (vgl. ebd. 372 f.). Ihre Lösung, oder viel mehr ihre Umgehung, besteht darin, die Debatten als „Kategorienfehler“ zu entlarven: Ihrer Meinung nach ist die gesamte Annahme falsch, das qualitative Erleben von etwas als Zuständeoder Vorkommnisse beschreiben zu können. Vielmehr sind diese Erfahrungen, auch die bewussten, Arten des Handelns, die andere Beschreibungsmuster benötigen: „Erleben ist etwas, das wir tun und seine qualitativen Merkmale sind Aspekte dieser Aktivität“ (ebd.: 364). Oder, um es mit O’Regan und Noë noch einmal konkret auf die Frage nach dem Bewusstsein zu beziehen:

Die Lösung des Rätsels der Entstehung des Bewusstseins im Gehirn liegt in der Einsicht, dass Bewusstsein überhaupt nicht im Gehirn entsteht! Visuelles Bewusstsein ist kein besonderer Hirnzustand oder eine besondere Eigenschaft von Informationszuständen des Gehirns. Bewusstsein ist etwas, das wir tun (ebd.: 376).

Und eben diese Eigenschaft des Tuns führt dazu, dass die potenziellen Träger des Bewusstseins die Gehirn-Körper-Welt-Unterteilung unterlaufen (vgl. Noë/Thompson 2004: 26).

Wie wir gesehen haben, geht es dem Enaktivismus darum, alle Formen von Kognition auf der Grundlage von Lebensprozessen zu verstehen, die in einem interaktiven Verhältnis zwischen einem autopoietisch orientierten Organismus und seiner Umwelt vonstatten gehen. Anders als die These vom ausgedehnten Geist, die eine Beteiligung von nicht-neuronalen (körpergebundenen oder externen) Entitäten für gewisse kognitive Prozesse denkbar macht, oder des eingebetteten Geistes, der diesen eine primär unterstützende Funktion zuschreibt, sieht der Enaktivismus körpergebundene Eigenschaften und Fähigkeiten als grundlegend und hervorbringend an, und zwar auch (oder gerade) für bewusste Erfahrungen. Das meint auch, dass Kognition etwas ist, das in erster Linie Lebewesen und nicht Computern zukommt. Radikaler als die Extended-Mind-Theorie widersetzen sie sich hiermit der These einer multiplen Realisierbarkeit. Indem der Enaktivismus zudem den Repräsentationalismus entschieden ablehnt, unterläuft er die paradigmatische Trennung zwischen Innen/Außen, Subjekt/Objekt, ebenso wie die Diskussion um „Hühner- und Eierstellung“ [3] und schlägt stattdessen einen ,anderen‘, mittleren Weg ein. Einen Weg, welcher die Gleichzeitigkeit einer mit anderen geteilten Welt einerseits undeiner personalen Erfahrungsebene andererseits anerkennt – oder, um an den phänomenologischen Ansatz anzuknüpfen, eine Theorie des gelebten Leibes ebenso wie des lebenden Körpers, eine Perspektive auf die Welt aus der ersten (erlebenden) und der dritten (beobachtenden) Person, darbietet. Dies kann für unsere Frage nach einem anderen Forschungs- und Wissenschaftsbegriff im 21. Jahrhundert außerordentlich hilfreich sein, wie ich im Folgenden herausstellen möchte.

Anmerkungen

[1] Die basale Ebene der Kategorisierung erscheint für Rosch als jener Punkt, an dem Kognition und Umwelt zugleich hervorgebracht werden (become enacted), indem Form und Funktion zusammenfallen. Zentral in diesem Zusammenhang ist auch der linguistische Ansatz von Lakoff und Johnson, die den historischen Wandel von Wortbedeutungen auf körperliche, sinnliche Erfahrungen zurückführen und ein Manifest für einen erfahrungsbasierten Zugang zu Kognition verfasst haben (vgl. Varela et al. 2017: 325 f.).

[2] ,Qualia‘ bezeichnet die ,phänomenalen‘, ,qualitativen‘ oder ,intrinsischen‘ Eigenschaften der Erfahrung in Gegenüberstellung zu deren ,repräsentationalen‘ oder ,funktionalen‘ Aspekten. Eine zentrale Debatte in der Philosophie kreist um die Frage, ob diese subjektiven Merkmale mit den klassischen (behavioralen, physikalistischen, funktionalen) Methoden der Kognitionswissenschaften und Biologie untersucht werden können – oder ob eine unüberbrückbare ,Erklärungslücke‘ bestehe (vgl. O’Regan/Noë 2017: 363 ff.).

[3] Zwei extreme Antworten auf die Frage: „Was kam zuerst, die Welt (das Huhn) oder das Bild (das Ei)?“.