Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne?
Über ein Kontinuitätsproblem didaktischen Denkens
Aus den Vorbemerkungen: „Ganz ohne Motto komme ich nicht aus: Karl Kraus – der Wiener »Fackel«-Kraus – schreibt um 1908: »Der Künstler entdeckt, was nicht gebraucht wird. Er bringt das Neue.« Und: »Der Künstler ist nur einer, der aus der Lösung ein Rätsel machen kann.« (Kraus 1986, 335, 338), Was ist demnach ein Kunstpädagoge? Auch Einer, der betreibt, was nicht gebraucht wird? Einer, der Neues bringt? Einer, der aus Lösungen Rätsel macht? Damit macht er sich nur unbeliebt. Immerhin hat Karl Kraus auch festgestellt, dass es die Bescheidwissenschaft ist, die den ersten Platz in der deutschen Bildungslandschaft einnimmt. Zu den Bescheidwissenden habe ich nie gehört. Trotzdem halte ich Ihnen einen Vortrag. Didaktisches Denken entsteht unter dem Druck kultureller Entwicklungen, die seine Bewegungsfreiheit und sein Selbstverständnis einschränken. Es reflektiert selten die verdeckten eigenen Abhängigkeiten. Es kommt fast immer zu spät, was seine Einwirkungsmöglichkeiten auf den Prozess der Kultur betrifft. Und heute steht es auch noch vor dem Problem eines Bruchs mit Traditionen, der seine lineare Fortsetzung unwahrscheinlich macht. Darüber unter anderem möchte ich sprechen.“
Volltext als PDFZur Person: Geboren 1933. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Kunstpädagogik. 1960–1968 Kunsterzieher in Frankfurt, Dozent an der Werkkunstschule bzw. der Fachhochschule Darmstadt. 1974 Berufung auf den Lehrstuhl für Bildende Kunst – Visuelle Kommunikation an der PH Niedersachsen, Abt. Braunschweig. Seit 1981 bis zu seiner Emeritierung Professor für Theorie, Didaktik und Praxis ästhetischer Erziehung an der Universität Oldenburg. Gert Selles frühere Arbeiten beschäftigen sich mit design-, kultur- und fachgeschichtlichen Fragestellungen. Die Bücher der 80er und 90er Jahre sind auf die Entwicklung einer erfahrungsbezogenen und kunstnahen Praxis ästhetischer Erziehung fokussiert. Die Reihe der didaktischen Publikationen wurde wiederum flankiert von Büchern zu kulturgeschichtlichen Themen. Daneben hat Gert Selle mit Buchbeiträgen und Aufsätzen in die kunstpädagogische Diskussion eingegriffen und dabei besonders seine Skepsis gegenüber jeder Form didaktischer »Planungsrationalität« begründet. Seit der Emeritierung arbeitet er auch wieder verstärkt künstlerisch – literarisch als Essayist , als Bildermacher, der Großplakatmaterial auf seinen geheimen Bilderschatz abfragt (Ausstellungen in Klagenfurt und Nürnberg).