Der Filmpädagoge Volker Schlöndorff

Schlöndorffs Die Blechtrommel ist einer der stärksten Filmerinnerungen meiner Kindheit. Die allwissende Kommentar-Stimme des kleinen Oskar Mazerath, die grotesken Bilder samt ihrer Figuren, die sein Blick auf die Welt des Nachkriegsdeutschlands hervorbringt, berührten mich und waren umso eindrücklicher, weil ich sie damals nicht begreifen, nicht einordnen konnte.

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Volker Schlöndorff feiert im März diesen Jahres seinen 70sten Geburtstag, ihm wurde im Januar die Carl Zuckmayer Medaille¬†des Landes Rheinland-Pfalz¬†verliehen, er hat seine Biographie veröffentlicht und zudem erinnern Tom Tykwer und Co mit ihrem aktuellen „Deutschland-Film“¬†schwach an den 1978 entstandenen¬†Deutschland im Herbst, an dem auch Schlöndorff mitwirkte. Da ist es doch mehr als begründet, dass¬†kinofenster.de dem „Moralisten“ (Koebner) des deutschen Kinos seine¬†Märzausgabe widmet. Zu lesen gibt es ein¬†Interview, diverse¬†Filmbesprechungen,¬†Hintergrundinformationen und Unterrichtsvorschläge zu seinen Filmen.

Im¬†Interview¬†mit kinofenster.de fordert Schlöndorff den Film als eigenständiges Unterrichtsfach und damit Filmanalysen mit gleicher Selbstverständlichkeit wie Literaturanalysen in der Schule durchzuführen:

„Die Filmsprache selbst wird, im Gegensatz zu Frankreich, selten unterrichtet: Wie kann man Bilder analysieren, Schnittfolgen, den Einsatz von Musik, den dramatischen Erzählbogen eines Films? Literaturanalyse ist etwas Selbstverständliches, Filmanalyse dagegen nicht. Film müsste eigentlich ein Unterrichtsfach sein, aber das ist er nicht.“

Er hält das für nachlässig, da doch die Wichtigkeit des Schulfachs Film angesichts der Bedeutung des Audiovisuellen für die Lebenswelt unserer Gesellschaft offensichtlich sei: „(…)¬†denn Bilder sind viel präsenter als Literatur und ganze Gesellschaften funktionieren nur über das Audiovisuelle.“

Schlöndorff argumentiert wie ein „guter“ Filmpädagoge und absolut konform zum derzeitig geführten Diskurs um die Zukunft der Filmbildung in Deutschland. Ein paar Sätze später aber kann man lesen, dass Schlöndorff selbst seine Film-Bildung nicht in der Schule, sondern im Kino erworben hat. Der Kinosaal war der Ort an dem er anderen Kulturen und für ihn vollig neuen Sichtweisen der Welt erfahrend begegnen konnte. Vom Erhalt, der finanziellen Subventionierung oder gar Vermehrung der Kinos, vor allem der Programm-Kinos und der Kinematheken, als filmische Bildungsinstitutionen spricht er jedoch nicht.

Mit der Idee eine Bildung des Zuschauers im Kino ist auch eine andere begriffliche Konzeption von Bildung verbunden, wie sie beispielsweise Heide Schlüpmann¬†in ihrem Text¬†Filmwissenschaft als Kinowissenschaft mitformuliert.

Ich zitiere etwas ausführlicher Schlüpmann:

„Die Fülle der Filme in Geschichte und Gegenwart läßt sich nur sichtbar machen, indem wir sie als Moment des Kinos betrachten: und das auch ganz buchstäblich, indem wir sie im Kino sehen. (…) Fülle gewinnt dann mehrfache Bedeutung: Zum einen sind Filme das Füllsel, die Füllmasse des Kinos, zum anderen entstanden und entstehen sie in großer Vielfalt und Fülle, und schließlich ist die Fülle der Filme ihr Inhalt, das, was sie als eine technische (Aufzeichungs-)Form füllt.¬†(…)
Filme bringen immer einen Überfluß gegenüber unserer Wahrnehmung von ihnen mit sich, der damit zusammenhängt, daß ich nicht allein mit ihnen bin, selbst wenn sonst kein Mensch sie mit mir sieht. Ich bin dann immer noch mit ihm im Raum des Kinos zusammen und die Menschen, für die dieser Raum da ist, sind in der Atmosphäre durch ihre Abwesenheit noch präsent. Dieser Überfluß jedes einzelnen Films eröffnet uns die Möglichkeit, unsere eigene Wahrnehmung und Erfahrung in ein Verhältnis zu der anderer zu setzen, die den Film vor mir oder mit mir gesehen haben, oder die ihn sehen werden. Das Kino bot sich also von Anfang an nicht nur als Raum der Selbstvergewisserung der eigenen leibhaft erfahrenen Lebensgeschichte an, sondern mit seinen Filmen auch als Befreiung von dem ständigen Zwang zur Selbstbehauptung. Es ermöglicht uns die Öffnung des eigenen Lebens in seiner Haltung auf die Haltungen anderer hin.“

Noch deutlicher wird die Erfahrungsdimension der Bildung im Kino, wie sie Schüpmann im Sinn hat in einem Vortrag zur Kino-Bildung. Dort schreibt sie:¬†

„Der Zugriff der Pädagogen auf das Kino hat schon zu seiner Anfangszeit allermeist damit geendet, ihm herrschende Bildungsvorstellungen und Begriffe überzustülpen, auch wenn manche unter den Lehrern sich nicht nur aus Annektionsinteressen sondern auch aus wirklicher Neugier auf das Kino einliessen. Das Verständnis für ein spezifisch Bildendes im Massenkino kam daher von Kritikern, Theoretikern, Schriftstellern, Künstlern, Filmmachern. Es geht aus von dem Vergnügen, der Lust, deren Versprechen die Leute ins Kino zieht – Kinder wie Erwachsene. Denn dieses Verspechen unterscheidet das Kino von den bestehenden Bildungsinstitutionen, in denen es die Lust immer schwer gegenüber der Pflicht hat.“

Schlüpmann betont die lustvolle und damit gleichsam die körperliche und materielle Dimension der bildenden Erfahrung im Kino. Filme berühren ihren Zuschauer, der sich wiederum im Kino im Kontakt zum kollektiven Körper einer heterogenen Sozialität befindet. Filme affizieren, lösen Lust und Unlust, Langeweile, etc. bei ihren Zuschauern aus. Sie machen versprechen, locken, irritieren, verstören zuweilen auch, werfen Fragen auf und regen zum Nachdenken an – über den Film und über sich selbst.

Schlöndorff hingegen entdeckt in der Arbeit an seinem aktuellen Filmprojekt an sich selbst, der er sich doch in seiner Jugend vom Bildungsbürgertum und seinem klassischen Bildungsbegriff ab- und dem Kino zugewandt hatte, gerade im Kino das Interesse an disziplinierter, systematischer Erziehung, an der bürgerlichen Form der Pädagogik:¬†

„Im Augenblick plage ich mich mit dem Drehbuchautor Peter Schneider an einer Geschichte über ein schwer erziehbares Kind, das Lern- und Schreibschwierigkeiten hat,¬†und einen Erwachsenen, der versucht, Pädagoge zu sein und mit ihm zu arbeiten. Es geht nicht um allgemeine Schulprobleme, sondern um die Auseinandersetzung damit, wie man jemanden etwas beibringen kann. Früher hatte ich eher eine gewisse Skepsis Bildung gegenüber, denn sie war ein Teil des Bürgertums, das man schließlich loswerden wollte. Deswegen ging man ja auch zum Film, der eine Trivialkunst war und gerade eben nicht zum bürgerlichen Kanon gehörte. Das ist jetzt ganz interessant, bürgerliche Tugenden in einem Pädagogen zu entdecken, zu sehen, wie er durch Disziplin und Systematik einem Jungen etwas beibringen kann.“